Die Last der Vergangenheit - Vom Umgang mit traumatischen Erinnerungen

Traumatische Erinnerungen können zu einer schweren körperlichen und seelischen Last werden. Beispielsweise Kriegsenkel:innen sind von solchen Erinnerungen betroffen. Wie kann ein hilfreicher Umgang mit traumatischen Erinnerungen aussehen?

Wer zu mir in die Praxis kommt, hat oft eine lange und leidvolle Geschichte hinter sich, verbunden mit einer langen Suche nach einem anderen Umgang mit sich selbst und einem anderen Zugang zur Welt. Es sind die Kinder der Kriegskinder des 2. Weltkriegs (1928 –1946), die sich einst als Kriegsenkel:innen neu erfunden haben und die heute wissen wollen, warum sie sich „falsch“, rastlos und getrieben fühlen und immer noch nicht in ihrem Leben angekommen. Obwohl viele von ihnen auf bemerkenswerte Karrieren verweisen können, haben sie den Eindruck – nun mittlerweile schon im fortgeschrittenen Alter – , noch gar nicht richtig gelebt zu haben. Die wenigsten von ihnen aber nehmen an, dass sie bei diesen Phänomenen mit traumatischen Erfahrungen zu tun haben.

Erst spät – mit dem Kriegskinder-Kongress 2005 – haben sie ihre Biografie in den Kontext des Aufwachsens ihrer Eltern im Nationalsozialismus und im Krieg gestellt und die Bedeutung von deren hoher Traumatisierungen für ihr eigenes Leben mehr und mehr erkannt. Viele dieser einstigen Kriegskinder waren oft ein Leben lang mit den schweren körperlichen und seelischen Verletzungen aus dieser Zeit beschäftigt. Für sie gab und gibt es bis heute keine öffentliche Hilfe. Ihr Leid war und ist Privatsache. Dafür sind immer noch die Kinder, die Kriegsenkel:innen, zuständig. Bis heute, wo die Eltern mehr und mehr pflegebedürftig werden.

Das ins Private abgeschobene Leid und seine Auswirkungen

Dieses ins Private abgeschobene Leid der (Kriegskinder-)Eltern gehört bis heute zum Grundrauschen der Familien. Die einstigen schmerzlichen Erfahrungen der Eltern mit Todesangst, Schutzlosigkeit und Hunger als Kriegskinder waren in vielen Familien ständige Begleiter. Von den Kriegsenkel:innen haben sie vor allem eins gefordert: für die vom NS und seinen Auswirkungen traumatisierten Eltern da zu sein und zu helfen. Und so sorgen sie häufig von Kindesbeinen an für ihre Eltern und für ihre Geschwister, sind die „besten Freundinnen“ der Mütter, der „Sonnenschein“ der Familie, derjenige, der das Abitur macht, weil der Vater es nicht konnte, oder diejenige, die zwischen den hoffnungslos zerstrittenen Eltern schlichten. Hier beginnt für die Kriegsenkel:innen ein langanhaltender Prozess, in dem sie als Kinder versuchen, Eltern für ihre Eltern zu sein.

Kinder versuchen, Eltern für ihre Eltern zu sein.

In den Gesprächen in meiner Praxis kommt immer wieder zum Ausdruck, dass Kriegsenkel:innen von Anfang an alleine klarkommen mussten. Ihre Mütter waren darüber erfreut, dass sie ihren Säugling ins Bett legen konnten und ihn Stunden später in derselben Position wieder vorfanden. „Du warst so ein braves Kind,“ hieß es dann. Oder dass die Eltern stolz darauf waren, sich vom Weinen ihres vierjährigen Kindes nicht davon haben abhalten lassen, einfach die Wohnung zu verlassen. Sie waren der Überzeugung, dass das Kind doch „so schön alleine spielen“ konnte.

Das Trauma der Kriegsenkel:innen: Vernachlässigung

Der so wichtige Spiegelungsprozess, in dem das Ich über das Du zum Ich wird – wie Martin Buber sagte –, hat bei vielen Kriegsenkel:innen in der Begegnung mit ihren traumatisierten Eltern kaum oder gar nicht stattgefunden. Es gab in dem Sinne kein Gegenüber, das ihnen gesagt hat, dass sie liebenswert sind. Viele haben kaum vermittelt bekommen, dass sie überhaupt da sind. „Ein Kind, das nie eine ausreichende Ansprache seiner Bedürfnisse gefunden hat, wird dies für sich selbst nicht als schockierend erleben“. Für das Kind ist es normal, weil es nichts anderes kennt. Aber es braucht kein „Schock-“ oder „Diskrepanzerleben“, um von einem Trauma sprechen zu können. Massive Vernachlässigungserfahrungen, wie Kriegsenkel:innen sie gemacht haben, reichen aus, und zwar allein deswegen, „weil die psychologisch verankerte Erwartung des Kindes, geschützt, versorgt und gespiegelt zu werden, nicht erfüllt worden ist.“ Es ist eine Traumatisierung, die sich „ohne jedes Aufsehen zugetragen hat“, und die in der Folge eine dauerhafte „Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses“ nach sich ziehen kann, wie sie sich in der obigen Beschreibung – „Ich bin falsch“ etc. – wiederfindet. (A. Bachhofen: Trauma und Beziehung, Stuttgart, 2012, S. 19).

Wer selbst in frühester Kindheit kein geeignetes Gegenüber gehabt hat, das einem altersentsprechend vermittelt hat, was man gerade erlebt, dass man müde und nicht etwa krank oder gar schwierig ist, dem fällt es schwer, dieses Erleben einzuordnen. Viele beschreiben sich selbst als schwierig, ängstlich oder nicht belastbar, anstatt die Bedingungen des Aufwachsens in einer Familie mit (NS- und Kriegs-)traumatisierten Eltern in den Blick zu nehmen und zu sagen: Wer sich als schwierig wahrnimmt, hat etwas Schwieriges erlebt.

Ich leiste also bin ich!

Viele, die heute in meine Praxis kommen, haben unzählige Therapien wegen Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen, Burnout oder anderen Überforderungssymptomen hinter sich. Denn noch heute agieren viele Kriegsenkel:innen mit dem, was sie in ihren Familien gelernt haben: Leistung! Leistung! Leistung! Nur so schienen sie darin vorzukommen. Oft werden sie auch im Erwachsenenalter noch von ihren Familien in ihrem einstigen Rollenverhalten angesprochen und von den Eltern herbeizitiert, um nun auch dem erwachsenen Bruder im Krankheitsfalle zur Seite zu stehen. Aber auch im Beruf zeigen sie zumeist ein großes Engagement und gehen oft jahrelang über ihre Leistungsgrenzen – nicht selten bis sich Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen und Burnout zeigen. Alles Symptome, die bei näherer Betrachtung auf Überforderung, Überanstrengung und Überlastung hinweisen.

„Ich musste immerzu funktionieren, ob ich wollte oder nicht!“

In meiner Biografiearbeit My Life Storyboard nimmt die Frage danach, wie jemand es geschafft hat, in seiner (NS- und Kriegs-)traumatisierten Familie so allein und ohne Unterstützung groß zu werden, einen großen Raum ein. „Ich musste immerzu funktionieren, ob ich wollte oder nicht!“ heißt es dann und häufig folgt auch eine wüste Selbst-Beschimpfung: „Warum habe ich mich nicht gewehrt? Warum habe ich alles getan, was sie wollten?“ Wenn wir dieses Verhalten in unseren Gesprächen jedoch als ein hingebungsvolles und loyales Engagement gegenüber den traumatisierten Eltern würdigen und überdies oft als die einzig mögliche Strategie, mit der jahrzehntelangen Vernachlässigung in der Familie klarzukommen, dann wird aus dem bis dahin als unterwürfig beschriebenes Auftreten ein kluges und sinnvolles Handeln – eines, das sie im Übrigen im Beruf und in ihren Karrieren weit gebracht hat. Durch diese würdigende Beschreibung ihres Verhaltens erfahren viele häufig erstmals eine Anerkennung ihrer jahrzehntelangen Leistung und fühlen sich endlich gesehen.

Leibwächter im Umgang mit traumatischen Erinnerungen nutzen!

Wenn Kriegsenkel:innen mit größtmöglicher Leistung auf die Anforderungen in ihren Familien geantwortet haben und noch heute in diesem Muster im Beruf und im Privaten agieren, dann erweisen sich die Störungen (Angst, Panik, Depression, Burnout etc.) bei eingehender Betrachtung nachgerade als Leibwächter. (Das Leibwächterkonzept habe ich bei Dr. Gunther Schmidt, Leiter des Milton Erickson Instituts Heidelberg, kennengelernt.) Weil Kriegsenkel:innen nicht gelernt haben, den Anspruch an sich, immerzu zu funktionieren und alles allein zu regeln, zurückzuweisen – oftmals bis heute nicht – entziehen sie sich den Anforderungen anders: „Ich muss krank werden, damit ich mich den Ansprüchen meiner Mutter oder auch den Erwartungen meines Chefs entziehen kann“, sagte jemand vor kurzem in einer Therapie-Stunde. Die Angst stellt sich wie eine Leibwächterin vor sie. „Ich kann dann einfach nicht mehr funktionieren. Ich werde wieder so klein und hilflos wie damals.“ An dieser Stelle kommen dann viele mit ihren traumatischen Erfahrungen, hoffnungslos allein gelassen worden zu sein, in Berührung, und das Kind, das man damals war, kann endlich betrauert werden: Was hat es alles durchgemacht! Aber es kann zugleich auch bestaunt werden: Denn es hat sich damals als äußerst klug erwiesen, indem es sich auf ganz eigene Art selbst getröstet und kein Aufhebens um sich gemacht hat. So hat es sichergestellt, seinen Platz in der Familie nicht zu gefährden.

Der lange Schatten des Nationalsozialismus

Die Einordnung der individuellen Schwierigkeiten der Kriegsenkel:innen in den langen Schatten des Nationalsozialismus, des Krieges, der Flucht und Vertreibung und die Anerkennung der einstigen Bewältigungsstrategien, mit diesen Verhältnissen und Verhinderungen umzugehen, sowie die Anerkennung, hin und wieder einen Leibwächter (Angst, Depressionen etc.) zu brauchen, weil man noch nicht alles mit „offenem Visier“ regeln kann, haben sich als hilfreich im Umgang mit traumatischen Erinnerungen erwiesen. Von hier aus kann es weitergehen.

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