Worüber schämst du dich? Von wem bist du beschämt worden?
Und wenn sie sich einmal erlaubt haben, nicht zu funktionieren, dann wurde dies häufig schwer sanktioniert. Das hat verschiedene Formen angenommen. Eine bis ins Mark wirksame Form der Bestrafung war die der Beschämung. Wer sich schon einmal geschämt hat, der weiß, wie weh die Scham tut.
Am Wochenende war ich auf einer äußerst inspirierenden DGfS-Tagung "30 Jahre Mauerfall - Die Freiheit, die ich meine ... Zwischen Identität und Wandel - auf Spurensuche!" in Naumburg, die von meinen geschätzten Kolleginnen Beate Jaquet und Christine Ziepert ausgerichtet wurde. Ein Vortrag hat mir ganz besonders gefallen, u.a. auch deswegen, weil dieses unmittelbar mit dem Kriegsenkel-Thema und der transgenerationellen Vererbung zusammenhängt. Es war der Vortrag über SCHAM von Stefan Marx. Er hat das gleichnamige Buch geschrieben.*
Dieser Vortrag und sein Buch haben mich zu den folgenden Fragen angeregt:
Worüber hast du dich in deiner Kindheit geschämt?
Warst du zu lebhaft, zu neugierig, zu dick, zu dünn, zu langsam, zu schnell, zu dumm? Warst du nicht so klug wie deine große Schwester, nicht so wortgewandt wie der große Bruder?
Wolltest du etwas anderes als die Erwachsenen? Wolltest du nicht das, was man von dir verlangt hat? Hast du einfach nicht in das Schema gepasst? Und wie hat man dich schließlich in die Spur gekriegt?
Konntest du als Mädchen auf Bäume klettern, mit Jungs oder mit Autos spielen?
Konntest du dich als Junge unbefangen in Mädchenkleidung werfen? Oder mit Puppen spielen?
Wie hat man dich wieder in die Spur bekommen?
Und dann in der Schule?
Wo bist du mit deinem Bewegungsdrang geblieben? Was ist passiert, wenn du im Unterricht aufgesprungen bist und du dich von den verlockenden Sachen, die draußen oder beim Klassennachbarn passiert sind, hast ablenken lassen? Hat man in Momenten von dir Wissen abgefragt, das du erwartungsgemäß nicht haben konntest? Hat man dich trotzdem an die Tafel geholt? Musstest noch in der Ecke stehen oder gab es schon den Time-out-Hocker, der genauso beschämend war? Hat man dir zu verstehen gegeben, dass du zu dumm bist, auf eine weiterführende Schule zu gehen?
Und wie kam dein Herkunftsmilieu an?
Zum Beispiel auf der weiterführenden Schule? Wie kam das an, aus einer Arbeiterfamilie oder vom Bauernhof zu kommen? Vom Land und nicht aus der Stadt? Aus Frankfurt/Oder und nicht aus Frankfurt/am Main? Aus einer kinderreichen Familie? Musstest du erklären, warum deine Eltern so viele Kinder hatten? Und was war dein Vater noch gleich? Was war dieser noch gleich dieser unaussprechliche Beruf? Der kein richtiger Beruf war und auch deshalb Anlass gab für die gemeinsten Witze... Tiefbau-Arbeiter? Was ist das?
Und spätestens auf den weiterführenden Schulen musste man Hochdeutsch sprechen und den vertrauten Dialekt verlernen! Einfach vergessen!
Die Scham, deutsch zu sein
Die erste Auslandsreise bescherte einem häufig noch die Scham, deutsch zu sein. Und die "Wendeerfahrung" haben denjenigen, die in der DDR groß geworden, nicht etwa Kraft und Stolz verliehen, sondern ihnen Scham beschert! Die Scham, aus dem Osten zu kommen.
Ja, sich mit Scham zu beschäftigen, ist schmerzhaft, weil man mit dem Prozess des Zugerichtet-Werdens konfrontiert ist.
Man erkennt plötzlich, wie man zugerichtet worden ist, um in einen bestimmten Rahmen zu passen. Sich mit Scham zu beschäftigen, ist schwer, weil man allein damit ist, weil man sich immer wieder fragt, wie konnte mir das passieren. Wie konnte mir das passieren, dass meine Eltern mich geschlagen haben? Wie konnte mir das passieren, dass ich in der Schule gemobbt worden bin? Wie konnte es mir passieren, dass mich mein Freund geschlagen, dass mich meine Freundin ausgelacht hat ...
Beschämung und Entwertung
Wir sind gewohnt, all diese Erfahrungen mit dem Begriff Scham zu belegen statt von Beschämungen und Entwertungen zu sprechen. Statt zu sagen: Es ist schlimm, was ich erfahren habe. Es ist schlimm an die Tafel geholt und vor der ganzen Klasse bloßgestellt worden zu sein. Es ist schlimm von einer vertrauten Person geschlagen worden zu sein.
Mitgefühl mit sich haben!
Endlich mit der Selbstfürsorge beginnen, statt sich selbst ein weiteres Mal abzuwerten.
Und dieses Mitgefühl mit sich selbst unterbleibt häufig, weil man gelernt hat, sofort wieder in die Spur zu kommen, weil man fürchtet, sonst abgehängt zu werden.
Wir haben gelernt, die Scham für uns zu behalten und uns im stillen Kämmerlein zu schämen.
Wir haben gelernt, all die Entwertungen und Abwertungen mit uns selbst auszumachen, weil man vermeintlich selbst Schuld daran war. Wir leben aber in einer Kultur, in der systematisch Menschen erniedrigt und abgewertet werden.
Eigentlich müssten wir statt von Scham von Beschämung sprechen, von Abwertung. Man schämt sich, weil man beschämt worden ist. Dann hätten wir einen anderen Adressaten als uns selbst und wir wüssten auch, was in unserer Gesellschaft anders laufen müsste: nämlich für Mitgefühl sorgen statt für Abwertung und Ausgrenzung.
Scham, Beschämung, Abwertung und Ausgrenzung ist schwer zu ertragen und viele wünschten, diese schwer zu ertragenen Gefühle einfach wegzuwischen, mit einer heftigen Gegenbewegung, am liebsten mit einem Schlag sich dieser Gefühle zu entledigen.
Und das ist es, was zur Zeit in unserer Gesellschaft vielfach passiert. Wer beschämt worden ist, holt zur Beschämung seines Gegenübers aus. Wer beschämt wird, beschämt wieder... Scham entwickelt sich entlang von Abwertungsprozessen und darin steckt zugleich die Message:
Die Scham zeigt uns, welche Bedürfnisse beachtet, gesehen und befriedet werden wollen. Die Scham ist eine Botschafterin achtenswerter Bedürfnisse! Wofür sorgt deine Scham?
Lektüre-Empfehlung
Stephan Marks "Scham - die tabuisierte Emotion", Patmos Verlag, 2011. Bitte in der lokalen Buchhandlung bestellen oder hier.
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